Weinheim/Rhein-Neckar, 19. Juli 2012. (red/la/tegernseerstimme.de) Morgen findet der “Bürgerdialog” zum Gewerbegebiet Breitwiesen statt. Deutschlandweit wächst der Wunsch nach mehr Bürgerbeteiligung – nicht nur in Weinheim. Wir stellen daher einen Beitrag unseres bayerischen Partnerblogs “Tegernseer Stimme” vor, der auch für Weinheim und andere Gemeinden in der Region Denkanstöße bietet. Viel Spaß beim Kennenlernen dieser interessanten Variante der Bürgerbeteiligung.
Von Steffen Greschner
Die Suche nach neuen Formen der Bürgerbeteiligung beschäftigt die Politik. Landauf, landab wird nach Möglichkeiten gesucht, den Menschen eine Stimme zu geben. Egal, ob am Tegernsee, in Berlin oder in Weinheim. Selbst die Bundeskanzlerin traf sich vergangene Woche beim Dialog über Deutschland mit Bürgern, um deren Ideen und Wünsche zu diskutieren.
Der Wunsch, sich einzubringen und gehört zu werden, wächst – auch im hohen Norden, in Friesland, hat man darauf reagiert. Möglicherweise eine wegweisende Entwicklung für die Lokalpolitik der Zukunft.
Bürgerbeteiligung darf nicht nur Alibi sein
Vieles davon wird als Alibidebatte angesehen, als eine Möglichkeit, lediglich das Gefühl zu vermitteln, mitsprechen zu können. Einmal diagonal durch Deutschland, weit entfernt vom Tegernseer Tal oder Weinheim, wie es weiter nicht geht, passiert dagegen etwas, was zukunftsweisend für die Lokalpolitik werden könnte: In Friesland wird aller Voraussicht nach ab Herbst dieses Jahres die Beteiligungssoftware “Liquid Feedback” eingesetzt.
Liquid Feedback ist eine Software, die es ermöglicht, in Echtzeit und gemeinsam an neuen Ideen und Dokumenten zu arbeiten und über bestehende Vorschläge abzustimmen. In einem auf ein Jahr begrenzten Pilotprojekt soll den Friesländern unter dem Projektnamen Liquid Friesland so eine direkte politische Beteiligung in ihrem Landkreis ermöglicht werden.
In der letzten Woche haben bereits der Spiegel, die TAZ, das Hamburger Abendblatt und viele andere Medien darüber berichtet. Das Mutigste und Cleverste an dem ostfriesischen Projekt versteckt sich aber in der Beschlussvorlage, die am 11. Juli dem Kreistag zur Abstimmung vorgelegt wird (PDF). In der Vorlage ist ein Kunstgriff gelungen, der die Entscheidungsfindung in der Lokalpolitik dauerhaft verändern könnte. Ohne irgendetwas an bestehenden Gesetzen und Verfassungen zu ändern, hat man eine Möglichkeit zur Bürgerbeteiligung geschaffen, die eigentlich lange überfällig war:
- Die Organisation zusätzlicher Bürgerbeteiligung mit Online-Instrumenten hat deshalb zu gewährleisten, dass dieser faktische Einfluss auf der einen Seite abgebildet wird und gleichzeitig die gesetzlich vorgegebenen Entscheidungsregeln (formale Beschlüsse durch Kreisgremien) nicht ausgehebelt werden. Dieses beachtend, schlägt die Kreisverwaltung für wichtige Themen in eigener Zuständigkeit des Landkreises, die Belange der örtlichen Gemeinschaft betreffen, vor:
- Vorlagen für die Gremien, parallel in “Liquid Feedback” zur Diskussion und Abstimmung zu stellen und so ein Meinungsbild zu erzeugen und
- Initiativen aus dem Nutzerkreis, die im Internet die erforderlichen Quoren gewonnen haben, als Anregung nach § 34 NKomVG und § 8 Abs. 4 der Hauptsatzung des Landkreises Friesland zu behandeln.
Was da so trocken klingt, ist eine wirklich spannende Lösung, die auch in der Metropolregion Rhein-Neckar funktionieren würde und einige Debatten und Diskussionen sicherlich positiv verändern könnte. Man muss sich den Vorgang folgendermaßen vorstellen: Der Gemeinderat tagt wie bisher auch. Mit dem Unterschied, dass alle Beschlussvorlagen einige Zeit vor der Sitzung bereits im Netz einsehbar sind und von interessierten Bürgern diskutiert werden können. Die Bürger selbst können also neue Vorschläge oder Änderungswünsche einbringen. Am Ende wird von den Bürgern über die anstehenden Punkte der nächsten Sitzung abgestimmt.
Ergebnisse der Bürgerabstimmung sind nicht verbindlich
Die Ergebnisse der Bürgerabstimmung sind allerdings weder für das Rathaus noch für den Gemeinderat in irgendeiner Art und Weise verbindlich. Aber in Friesland hat man sich verpflichtet, die Bürgermeinung vor jeder Abstimmung in den Gemeinderäten zu verkünden. Die Meinung der Bürger bekommt damit formal einfach nur den gleichen Stellenwert wie beispielsweise die offiziellen Stellungnahmen des Bund Naturschutz, die Stellungnahme der Schutzgemeinschaft oder anderer Lobbygruppen, wie sie beispielsweise bei Bauvorhaben vorgetragen werden.
In der Realität sähe das so aus: Bevor die Gemeinderäte in Weinheim beispielsweise über das Schicksal der Breitwiesen entschieden hätten, wäre bereits von den Weinheimer Bürgern darüber abgestimmt worden. Es wären wohl Gegenvorschläge ausgearbeitet und ebenfalls diskutiert und darüber abgestimmt worden. Am Ende, im Gemeinderat, wird die Meinung der Bürger vor der Abstimmung verkündet: “Beteiligt haben sich xy Bürger. xy % stimmten für JA, xy % für NEIN. xy % würden für JA stimmen, wenn man folgende Änderungen in den Beschluss übernimmt.”
Den Bürgern eine eigene Lobby geben
Welche Auswirkungen das auf die Entscheidungen haben kann, wird man in Friesland mitverfolgen können. Klar ist aber, dass die Meinung der Menschen so viel schwerer ignoriert werden kann. Außerdem ergibt sich die Chance, dass kleine Projektgruppen interessierter Bürgern jederzeit eigene Ideen und Vorschläge ausarbeiten können. Finden sich dafür genügend Unterstützer aus der Bevölkerung, die den Vorschlag mit JA bewerten, muss der Vorschlag auch in den Gemeinderäten diskutiert werden. Wie die Räte darüber am Ende entscheiden, bleibt natürlich den gewählten Vertretern überlassen.
Ohne direkt und rechtlich verbindlich mitbestimmen zu können, wird der “Lobby der Bürger” durch die Bekanntgabe der aktuellen Stimmungsbilder also ein sehr hoher “emotionaler” und vor allem dauerhafter Stellenwert eingeräumt und nicht erst bei Bürgerentscheiden und Protestaktionen – die jede Menge Nerven und Zeit kosten und in Weinheim den Steuerzahlter aktuell 40.000 Euro für den “Bürgerdialog”.
Dagegen wird sich kein Lokalpolitiker auf Dauer verwehren können. Aus dem einfachen Grund: Rechtlich verbindlich oder nicht – kein Politiker stellt sich schließlich gerne, und in Friesland in Zukunft sogar wissentlich, gegen die Mehrheit seiner potenziellen Wähler.
Wer sich einer umfassenden Bürgerbeteiligung verschließt, muss sich hingegen fragen lassen, ob er nicht wissen möchte, was seine Wählerinnen und Wähler wollen.
Anm. d. Red.:
Der Medienexperte Steffen Greschner ist freier Journalist und lebt in Berlin. Er betreibt im Internet das Blog xpolitics.de
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