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Sonntag, 03. November 2013

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Kommunalrechtsexperte Professor Geitmann im Interview

Dossier Breitwiesen: “Bürgerentscheide sollten etwas ganz Normales sein”

Weinheim, 20. März 2012. (red) Der Kommunalrechtsexperte Roland Geitmann (70) erklärt im Exklusiv-Interview mit dem Weinheimblog, warum Bürgerentscheide viel häufiger als Mittel direkter Demokratie genutzt werden sollten. Er hat sich mit dem Fall “Breitwiesen” befasst – versteht die Standpunkte beider Seiten und schlägt eine umfassende Bürgerbeteiligung vor. Danach sollen die Bürger aber per Bürgerentscheid in der Sache entscheiden.

Interview: Hardy Prothmann

Herr Professor Geitmann, warum tun sich Kommunalpolitiker so schwer mit Bürgerentscheiden?

Roland Geitmann: Macht abzugeben fällt manchen schwer. Dazu kommen bürgerunfreundliche gesetzliche Regelungen.

Verbindliche Mitentscheidung ist quasi ausgeschlossen

Erläutern Sie das bitte.

Geitmann: Die Gemeindeordnung Baden-Württemberg schließt Bürgerentscheide über Bauleitpläne aus und enthält eine Sechs-Wochen-Frist für Bürgerbegehren, die sich gegen Gemeinderatsbeschlüsse richten. Beides gibt es in Bayern beispielsweise nicht. Dort sind Bürgerentscheide deshalb auch viel häufiger zu finden. Mit der Bauleitplanung ist ein zentraler Gestaltungsbereich der Kommune von verbindlicher Mitentscheidung ausgeschlossen.

Roland Geitmann ist einer der renommiertesten Kommunalrechtsexperten in Baden-Württemberg. Foto: privat

Was ist die Konsequenz?

Geitmann: Der Flächenfraß krassiert. Man muss kein „Öko“ sein, um zu verstehen, dass diese Entwicklung nicht so weitergehen kann. Wenn Bürgerbegehren dagegen nicht möglich sind, fehlt ein wichtiges Instrument der Eindämmung.

Moment – auch die frühere CDU-Regierung hatte doch betont, sie wolle den Flächenfraß begrenzen. Hatte man Kreide gefressen?

Geitmann: Das kann man so deuten. Diese Haltung wurde immer behauptet – konsequent umgesetzt wurde sie nicht.

Zurück zum Bürgerentscheid über Bauleitplanungen. Es heißt immer, diese Fragen seien zu komplex, um vom Bürger mit Ja oder Nein beantwortet zu werden. Können Sie diesem Argument folgen?

Das “Ob” kann man mit Ja oder Nein entscheiden

Geitmann: Nur eingeschränkt. Die sieben Bundesländer, die Bauleitpläne nicht ausschließen, zeigen, dass es anders geht. Es geht ja auch überhaupt nicht darum, dass die Bürger komplexe Planungsaufgaben übernehmen, sondern dass sie eine Planung einstweilen stoppen können, also um das „Ob“. Und das lässt sich sehr wohl mit Ja oder Nein beantworten.

Und was, wenn der Bürger gegen alles ist?

Geitmann: Ein Bürgerentscheid gilt ja nicht für alle Zeiten, sondern für drei Jahre. Und engagierte Bürger sind nicht gegen alles – sie bilden sich differenziert ihre Meinung. Sie wägen Chancen und Risiken ab.

Bürgerentscheide bieten Tiefe

Drehen wir den Spieß mal um: Haben Sie den Eindruck, dass Gemeinderatsmitglieder immer so gut informiert sind, dass sie „komplexe Fragen“ entscheiden können?

Geitmann: Das hängt sicher von der einzelnen Person ab. Langjährige Erfahrung bringt sicher Kompetenz mit sich. Gelegentliche Bürgerentscheide können dabei helfen.

Spannend – wie das?

Geitmann: Die allermeisten Entscheidungen werden ohne die Bürger getroffen. Kommt nun ein Bürgerentscheid, muss man sich als Gemeinderat zwangsläufig tiefer und eingehender mit dem Fall befassen. Dabei lernen natürlich auch Gemeinderäte sehr viel. Ebenso die engagierten Bürger. Unterm Strich ist das für alle Beteiligten sehr positiv zu werten.

Das klingt doch toll. Was ist das Problem?

Geitmann: Nun, viele Gemeinderäte sehen sich durch eine Entscheidungsübertragung ans Volk in ihren Kompetenzen beschnitten. Ebenso Bürgermeister, die fürchten, ihre eigenen Zielsetzungen könnten gefährdet werden. Außerdem sind Bürgerentscheide teuer.

Das Volk als Souverän? Theoretisch ja, praktisch nein

Aber der Souverän ist doch das Volk oder habe ich das Grundgesetz falsch verstanden?

Geitmann: Das haben Sie schon richtig verstanden; Demokratie gibt’s halt nicht kostenlos. Bürgerentscheide sollten etwas ganz Normales sein und wären es, wenn Gemeinderäte vom Ratsreferendum mehr Gebrauch machten. Doch dafür ist die gesetzliche Hürde mit einer Zwei- Drittel-Mehrheit leider noch sehr hoch.

Sie stehen mit Ihrer Arbeit für mehr Bürgerbeteiligung. Warum?

Geitmann: Alle fünf Jahre durch Wahl die eigenen Vormünder in ihrem Amt zu bestätigen reicht nicht. Die Menschen erleben sich nur dann als Subjekt des Geschehens und nicht nur als Zuschauer, wenn sie gelegentlich auch über eine wichtige Sachfrage selbst entscheiden können. Nur wenn dieses Letztentscheidungsrecht durch faire Verfahrensregeln und entsprechende Praxis gewährleistet ist, werden alle anderen Formen der rechtlich unverbindlichen Beteiligung – von Anhörung und Bürgerrat bis zu Foren und Zukunftswerkstatt – intensiv und ernsthaft genutzt.

Es werden immer wieder Bedenken geäußert, dass Bürgerentscheide negative Folgen haben können. Lässt sich das wissenschaftlich belegen?

Geitmann: In Bayern gab es mal einen Fall, da wurde ein Museumsbau verhindert, der die Attraktivität der Gemeinde gesteigert hätte.

Es geht bei Bürgerbeteiligung um den Input, nicht den Output

Warum haben die Bürger so reagiert?

Geitmann: Nun, es gibt sicherlich beim Bürger gewisse „Beharrungstendenzen“ – man möchte, dass alles so bleibt, wie man es kennt. Das ist menschlich nachvollziehbar. Viele Bürger sind sehr vorsichtig, was auch positiv ist.

Erläutern Sie das bitte.

Geitmann: Untersuchungen in Schweizer Kantonen haben ergeben, dass die Bürger sehr genau auf die Finanzen schauen. Sie interessieren sich sehr genau, was mit öffentlichen Geldern passiert, schauen oft genauer hin als Amts- und Mandatsträger und sorgen auf diese Weise für geringere Verschuldung und solideres Finanzgebaren…

Das ist doch aber positiv. Dann sollte man den Bürger ja noch umso mehr beteiligen.

Geitmann: Ganz sicher ist dieser Aspekt positiv. Direkte Demokratie garantiert aber nicht ein besseres Ergebnis. Die Bürgerschaft hat auch das Recht, Fehler zu machen und daraus zu lernen. Es geht bei Bürgerbeteiligung mehr um den Input, also die Mitwirkung, als den Output, also das Ergebnis.

Seit Stuttgart 21 ist die Welt anders

Ich denke bei den „Vormündern“ mal an die Verwaltungsbeamten. Sie kennen diese Klientel als Professor und bilden sie mit aus. Könnte es sein, dass diese Leute eher strukturkonservativ sind und „Bürgerbeteiligung“ ihnen suspekt ist?

Geitmann: Wenn wir zwei Studiengänge für den öffentlichen Dienst vergleichen, etwa die Hochschule für öffentliche Verwaltung in Kehl und eine sozialpädagogische Hochschule, dann würde man bei uns in Kehl in der Tat eine eher konservative Haltung feststellen. Doch ändert sich da derzeit manches. Die Vorteile bürgerschaftlicher Partizipation werden zunehmend wahrgenommen und sind Gegenstand des Lehrbetriebs. Spätestens seit Stuttgart 21 ist diese Welt sowieso nicht mehr, wie sie mal war.

Wie meinen Sie das?

Geitmann: Durch den Widerstand gegen Stuttgart 21 sind überall die Warnlampen angegangen. Die kritischen Bürger und ihr Engagement haben einen tiefgreifenden Wandel in Gang gebracht. Das ist vielleicht noch nicht jedem wirklich bewusst, aber es ist unumkehrbar. Die Bürger wollen mitentscheiden und die Politik wird dies berücksichtigen müssen. Sonst wird sie abgewählt, wie in Baden-Württemberg geschehen.

In Weinheim hat OB Bernhard seine Haltung durch juristische Gutachten und eine Verwaltungsvorlage, das Bürgerbegehren abzulehnen, quasi zementiert. Kann er eigentlich noch zu einer anderen Haltung finden?

Geitmann: Die Lage ist offensichtlich so, dass nicht wirklich klar ist, ob das Bürgerbegehren zulässig ist oder nicht. Die Haltung beider Seiten ist nachvollziehbar. Ich kann mir vorstellen, dass einzelne Unterzeichner des Bürgerbegehrens auf der Basis ihres fundierten Gutachtens gegen eine Nichtzulassung Rechtsschutz suchen, das Verfahren aber einstweilen ruhen lassen, um die von der Verwaltung vorgeschlagene Bürgerbeteiligung und deren Ergebnisse und Auswirkungen abzuwarten. Wenn der Gemeinderat wirklich ergebnisoffen bleibt, könnte die Kombination von Bürgerentscheid und vorgeschalteter Moderation durch Bürgerrat und Forum durchaus ein guter Weg werden, der sogar Schule macht.

Zur Person:

Der Jurist Roland Geitmann gilt als einer der profiliertesten Experten in Sachen direkter Demokratie. Er schlug zunächst eine Verwaltungskarriere ein und war 1973/74 Oberregierungsrat beim Regierungspräsidium Tübingen, bevor er von 1974 bis 1982 Oberbürgermeister der Großen Kreisstadt Schramberg und dann auch Mitglied des Kreistags des Landkreises Rottweil war. Von 1983 bis 2006 war er Professor an der HS Kehl, wo er bis heute einen Lehrauftrag hat.

Geitmann ist Fachmann für Verwaltungsrecht und Kommunalverfassungsrecht. Seine Forschungsgebiete sind Sozialgestaltung, Demokratieentwicklung und Fragen gerechter Wirtschaftsordnung.
Er war Sprecher des Kuratoriums von Mehr Demokratie e.V. sowie verantwortlicher Herausgeber der Schriftenreihe der Arbeitsgruppe Gerechte Wirtschaftsordnung.

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