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Samstag, 09. November 2013

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„Er wurde immer seltsamer“

Guten Tag!

Weinheim, 20. September 2011. Eine betroffene Frau schildert das Leben mit ihrem demenzkranken Ehemann – Runder Tisch Demenz strebt Patenschaftsmodell an

Von Roland Kern

"Gesichter der Demenz". Plakat zum Welt-Alzheimertag 2011. Quelle: Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V..

Die Tränen treten ihr so plötzlich in die Augen, als hätten sie sich lange angestaut. „Ich habe in meinem Leben nie Schulden gemacht“, schluchzt Martha Mayer (Name von der Redaktion geändert), „und jetzt muss ich wohl bald von Sozialhilfe leben“.

Sie braucht eine Weile im Gespräch über ihre Lebenssituation, bis sie auf die finanziellen Umständen zu sprechen kommt. Alle anderen Sorgen nennt sie offen und ehrlich, und die 62-jährige Frührentnerin meistert ihr Leben – und das ihres Mannes irgendwie mit.

Der demenzkranke 68-jährige Weinheimer lebt seit jetzt drei Wochen in einem Altenpflegeheim im vorderen Odenwald. Martha Mayer ist froh, dass sie den Platz gefunden hat. Doch so schnell. Im Sommer musste ihr Mann von heute auf morgen in die Psychatrische Klinik in Wiesloch eingeliefert werden. Das Leben zuhause wurde für das Paar zu schwierig, auch zu gefährlich. Es ging einfach nicht mehr.

Im Gespräch mit uns und Dieter Gerstner, dem Demenzexperten und Vorsitzenden des Runden Tisch Demenz in Weinheim, schildert Martha Mayer zum heutigen „Weltalzheimertag“ das Leben mit ihrem demzkranken Mann.

„Für uns kam leider jede Hilfe zu spät.“

Gerstner hat die Familie Mayer in den letzten Wochen begleitet und stand immer wieder mit Ratschlägen und Tipps zur Seite. „Ich kann nur jedem Menschen in dieser Lage raten, diese Angebote in Anspruch zu nehmen“, sagt Martha Mayer. Und fügt hinzu: „Für uns kam leider jede Hilfe zu spät.“ Die Familie hat keine Hoffnung mehr, dass der Ehemann und Vater jemals wieder in sein Reihenhäuschen in der Weinheimer Weststadt zurückkehren wird.

Die Verdrängung findet von alleine statt. „Wenn ich ihn im Heim besuche“, schildert Martha Mayer, „dann sitzt dort ein hilfsbedürftiger Mensch, aber mein Mann, nein das war ein anderer“. Das war der gelernte Elektriker, der sich lange in seinem Beruf fortgebildet hat, mit Ende 40 nochmal die Schulbank drückte, der nach seinem vorzeitigen Ruhestand Jahre lang das von der Mutter geerbte Häuschen renovierte und schick herrichtete. „Wir haben unser Leben lang keinen Handwerker gebraucht, er konnte alles alleine“, blickt sie zurück und muss schmunzeln.

Vor drei Jahren, er war 65, merkte sie, „dass mit meinem Mann etwas nicht stimmte“. Er begann Sätze zu sprechen, die im verbalen Wirrwarr endeten. Er war zunehmend lustlos und übellaunig, brach zu ziellosen Spaziergängen auf, begann die Körperpflege zu vernachlässigen. „Er wurde immer seltsamer“, erzählt Martha Mayer. Der eigene Zerfall war ihm nur zeitweise bewusst. „Was stimmt mit mir nicht?“, fragte er manchmal. Andererseits weigerte er sich, einen Arzt aufzusuchen. Bis zuletzt. Bis es nicht mehr ging, und dann war die Diagnose schon vorher klar. In dieser frühen Phase war die Frau hilflos, wusste nicht so recht, an wen sie sich wenden konnte. Heute macht sie sich Vorwürfe: „Vielleicht hätte man da noch etwas tun können.“

Die Lebenslage des Ehepaars wurde immer schlimmer. Bald konnte Martha Mayer ihren Mann nicht mehr alleine lassen, selbst eine stundenweise engagierte Betreuung war schließlich überfordert. Einmal stahl er sich davon und fingerte am Sicherheitskasten herum. Nur durch ein Wunder ist nichts Schlimmes passiert.

Dieter Gerstner und seine Mitstreiter vom Runden Tisch Demenz in Weinheim wollen künftig eine frühere Hilfsbereitschaft für Demenzbetroffene organisieren. Gerstner, der früher hauptberuflich als Pflegedienstleiter tätig war, strebt ein Patenschaftsmodell an, bei dem Familien ehrenamtliche Helfer zur Seite stehen. Erste positive Resonanz hat er schon erhalten.

„Es wäre eine gewaltige Erleichterung für mich gewesen, so einen Menschen in der Nähe zu wissen, denn oft braucht man eine spontane Hilfe“, erklärt Martha Mayer. Sie hat erfahren müssen: „Als demenzbetroffene Familie ist man oft alleine.“ Auch viele Bekannte hätten in dieser Zeit den Kontakt abgebrochen, schildert sie. Die eigene Tochter wohnt nicht in Weinheim und konnte selten einspringen, wenn Hilfe nötig war.

Im Moment muss Martha Mayer erfahren, dass auch der Staat mit seinem Regelwerk für Pflegefälle keine Kompromisse kennt. Seit zwei Jahren ist ihr Mann mit Pflegestufe eins ausgestattet. Die Rente reicht gerade dafür aus. Wenn die Pflegestufe erhöht wird, was bei dem Zustand des Patienten möglicherweise unvermeidlich wird, klafft eine Lücke. Beim Sozialamt habe sie sich deshalb schon erkundigt, berichtet sie. Wenn der Staat als Bezahler einspringe, heißt es, könne sie zwar ihr Haus behalten. Allerdings werde eine Grundschuld eingetragen und im Gegenzug der Hartz-IV-Satz als Lebensgrundlage eingeräumt. „Ich habe richtige Existenzangst“, beichtet Martha Mayer mit Tränen in den Augen.

Anmerkung der Redaktion:
Roland Kern ist Journalist und Pressesprecher der Stadt Weinheim

Service

Demenzberatung in Weinheim

In Weinheim bietet der Pflegestützpunktes des Rhein-Neckar-Kreises und der Stadtseniorenrat Weinheim jeden zweiten Donnerstag, 14.30 Uhr bis 17 Uhr am Pflegestützpunkt in der Weinheim Galerie eine Demenzberatung an (3. OG, Zimmer 317), Telefon 06221-5222620 (Anmeldung erforderlich) oder [email protected]. Infos zum Runden Tisch Demenz und weiteren Angeboten für Demenzbetroffene erteilt der Stadtseniorenrat (Telefon 06201 / 18 43 90, mail: [email protected] oder alle dem Runden Tisch angeschlossenen Einrichtungen.

Weltalzheimertag: Am 21. September 2011 im Bodelschwinghheim

Die Woche vom 19. bis 26. September ist bundesweit der Demenzerkrankung gewidmet. Heute, am 21. September, dem „Weltalzheimertag“, bietet das Bodelschwingh-Heim am Weinheimer Schlosspark zwei öffentliche Vortragsveranstaltungen an, jeweils im Kultur- und Begegnungszentrum des Hauses mit Kaffee und Kuchen. Um 15 Uhr wiederholt Leiterin Heidi Zieger ihren bereits am Demenztag im Juni gehaltenen Vortrag „Demenz – Validation nach Naomie Feil“.

„Heute mit gestern leben“, heißt ein sich anschließender Vortrag von Pflegedienstleiter Christian Rupp um 16.30 Uhr. Am Samstag, 25. September, wird die Weinheimer Autorin Antonia Scheib Berten am Buchladen Schäffner in der Fußgängerzone einen Infostand mit Materialien der Alzheimergesellschaft Baden-Württemberg betreuen, gerne auch Bücher signieren und zu Gesprächen bereit stehen, ebenso wie Dieter Gerstner selbst und Karola Marg vom Weinheimer Pflegestützpunkt.


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